Was bedeutet Spreizung beim Klavierstimmen?


Die Klaviersaiten eines Klavieres unterliegen einer sogenannten "Inharmonizität" oder auch "Teiltonverstimmung" und genau dieser Effekt macht die Stimmung eines Klavieres so sehr viel schwieriger als beispielsweise die Stimmung einer Gitarre. Der Klavierstimmer muss die Stimmung über die Oktaven spreizen, also nicht linear stimmen.

 

Aber was bedeutet überhaupt "Inharmonizität" und "Spreizung"?

 

Die Obertöne einer realen Stahlsaite verhalten sich leider nicht so wie die Obertöne einer "idealen" Saite, bei der die Obertöne ganzzahlige Vielfache des Grundtons sind. Stattdessen schwingen die Obertöne einer "realen" Klaviersaite schneller als sie es theoretisch sollten. Die Obertöne sind somit alle etwas zu hoch. Zu allem Übel ist diese Verstimmung nicht bei allen Partialtönen gleich.

Die Inharmonizität ist von vielen verschiedenen Eigenschaften der schwingenden Klaviersaite abhängig, z.B. vom Durchmesser, von der Länge, von deren Frequenz und vom Elastizitätsmodul des verwendeten Stahls. 

 

Allgemein gilt, dass die Inharmonizität steigt, je kürzer, dicker oder schwächer gespannt die Saite ist. Hohe Inharmonizitätswerte führen dazu, dass der Klang einer Saite irgendwie "falsch" oder "unrein" klingt. Beim Klavier trifft dies insbesondere auf die tiefsten Basstöne und die höchsten Töne im Diskant zu. Bei Basssaiten ist die Inharmonizität dann geringer, wenn diese sehr lang sind, wie dies etwa bei einem großen Konzertflügel der Fall ist. Die Saiten eines solchen Flügels klingen dann im direkten Vergleich mit einem Klavier deutlich besser.

 

Durch hochwertige Stahlsaiten und durch eine genaue Berechnung der Saitenmensur, also dem Verhältnis zwischen Saitendurchmesser, Länge und der Spannung der Saite, kann die Inharmonizität bereits positiv beeinflusst werden, so dass der Ton einer Saite trotz Inharmonizität deutlich besser klingt. Eine hohe Inharmonizität durch schlechte Saitenmensurierung führt zu "drahtig" klingenden Saiten. Auch die Konstruktion des Klaviers und die Intonation der Hammerköpfe entscheiden sehr über ein gut klingendes Klavier. 

 

Und natürlich kann auch der Klavierstimmer ein Klavier so stimmen, dass sich der durch Inharmonizität bedingte Effekt nicht so stark ausswirkt bzw. weitestgehend kompensiert wird. Die Reinheit einer Oktave ist in den Lagen mit großer Inharmonizität, z.B. a2 in der großen Oktave mit a1 in der Kontraoktave, nämlich weniger vom 2:1 Verhältnis der Grundtöne als vielmehr vom gut abgestimmten Klanggemisch zweier Obertonspektren also des Spektrums von a1 und des von a2 abhängig. Dabei können verschiedene Obertöne schwebungsfrei zueinander gestimmt werden, z.B. bei der 6:3 Gewichtung wird der 6. zum 3. Teilton (beide Teiltöne sind Quinten zum Grundton. Der 6. ist oktaviert zum 3.) eingestellt. Andere Stimmungen z. B. im Diskant berücksichtigen 4:1, 2:1 usw.

In der Praxis müssen, ganz vereinfacht gesagt, die tiefen Töne zunehmend tiefer und die hohen Töne zunehmend höher gestimmt werden, um eine optimale Anpassung der beteiligten Obertonspektren zu erreichen. Man nennt dies die "Spreizung" der Klavierstimmung.

 

Die bei jedem Klavier unterschiedliche aber notwendige Spreizung kann zum einen natürlich das geschulte Ohr des Klavierstimmers subjektiv ermitteln. Mittlerweile nutzen die Klavierstimmer aber auch zusätzlich sehr gute Analyse-Software zur Ermittlung der optimalen Spreizung in Abhängigkeit von den physikalischen und konstruktiven Eigenschaften eines Klavieres. Bei diesen Softwarelösungen wird die Obertonstruktur, also die Stärke und Gewichtung der einzelnen Obertöne jeder einzelnen Saite  gemessen. Anschließend kann die Software aus diesen Informationen dann die bestmögliche Spreizung einer Stimmung über alle Oktaven berechen. In Zusammenhang mit dem geschulten Ohr des Klavierstimmers gelangt man hierdurch zu einer besonders ausgewogenen Stimmung.